Junge Migrant*innen und die Digitalisierung: Chancen und Gefahren

Serap Berrakkarasu und Wolfgang Cramer sind Berater*innen des Jugend­migrations­dienstes (JMD). Dieser berät und begleitet Migrant*innen im Alter von 12 bis 26 Jahren.

„In den letzten zwei Jahren bestimmte die Corona-Pandemie weitestgehend unseren Alltag und stellte sowohl die Jugendlichen als auch die Beratungsstelle des Jugendmigrationsdienstes vor neue Herausforderungen“, berichtet Serap Berrakkarasu. Viele Schulen, Sprachkurse, Ämter und Behörden blieben 2021 für den persönlichen Kontakt geschlossen. „Der JMD war oftmals der letzte Kontaktort für die Jugendlichen“, so die Beraterin.

Gleichzeitig verlagerte sich die Kommunikation verstärkt auf das Telefon, Signal-Messenger und E-Mail. „Dies hatte zwar eine zusätzliche Verdichtung der Arbeit zu Folge, ermöglichte aber auch eine geschützte Unterstützung der Jugendlichen“, so Serap Berrakkarasu.

„Notwendig sind niedrig­schwellige Angebote, die den Menschen den sicheren Zugang zu Informationen und Teilhabe ermöglichen.“
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Nicht alle Klient*innen besitzen ein eigenes Smartphone oder haben Zugang zu W-LAN. Dies erschwert den Zugang zu für sie wichtigen Informationen. Zudem sind viele online verfügbare Informationen zu allgemein gefasst. Foto: Valeska Achenbach

Die Notwendigkeit, digitale Medien und das Internet für Termine, Anträge, Käufe, Vertragsabschlüsse und Finanzen zu nutzen, sei auch 2022 weiter vorangeschritten. Die Digitalisierung vieler Lebensbereiche bringe viele Vorteile, aber stelle unter Umständen auch eine große Hürde für junge Menschen dar, denen es an der notwendigen Ausstattung, Sprachkenntnissen und finanziellen Ressourcen fehle. Berrakkarasu: „Wer keinen Zugang zu W-LAN und kein Geld für mobiles Internet hat oder kein eigenes Smartphone besitzt, kann die Möglichkeiten des Internets nur begrenzt nutzen.“ Besonders hoch sei der Informationsbedarf Neuzugewanderter in den Bereichen Arbeitsmarkt und Ausbildung, zu aufenthaltsrechtlichen Fragen sowie zur Wohnungssuche.

„Die Suche nach konkreten Antworten zu aufenthaltsrechtlichen Fragen bleibt online oft erfolglos“, mussten Serap Berrakkarasu und ihr Kollege Wolfgang Cramer feststellen. „Die wenigen online verfügbaren Informationen sind oft zu allgemein gefasst und zumeist für die einzelnen Neuzugewanderten nicht passend und nicht verständlich aufbereitet. Dagegen werden Wohnungen und Arbeitsstellen erfahrungsgemäß viel häufiger online auf spezialisierten Websites wie auch in Foren und Facebook-Gruppen angeboten und gesucht.“ Aber auch hier gelte: „Wer aufgrund von fehlender Sprach- oder Medienkompetenz keinen Zugriff hat, ist von wichtigen Informationen zur Integration ausgeschlossen oder geht Betrügern leicht in die Falle.“

Die Folgen können dramatisch sein. „Eine Klientin war z.B. in ihrer Verzweiflung bereit, 500 Euro auf ein Konto in England zu überweisen, um die Schlüssel für eine Wohnung zu bekommen, die sie noch gar nicht gesehen hatte“, schildert die Beraterin einen Fall. „Da sie aufgrund von Wohnungsnot und Diskriminierungen auf dem freien Markt deutlich schwerer eine Wohnung finden, sind Neuzugewanderte besonders anfällig für solche Angebote.“

Auch Wolfgang Cramer erlebte diese Fälle immer wieder: „Insbesondere für unsere Handy nutzende Klientel stellen nicht selten überraschende Anrufe von Telefon-, Versicherungs- oder Energieanbietern ein großes Problem und eine besondere Gefahr dar.“ Hier würden sie in der Regel von Callcenter-Mitarbeitenden mit speziellen Ja- oder Nein-Fragen dazu gebracht, möglichst deutlich „Ja“ zu sagen und im Folgenden mit einer Flut von Informationen dazu gebracht, einem neuen Handy-, Versicherungs- oder Energielieferungsvertrag von zumeist 24 Monaten zuzustimmen. „Die Klientinnen und Klienten aus diesen Verträgen heraus zu bekommen, war jedes Mal eine nervenaufreibende und zeitaufwändige Arbeit, bei der Rechtanwälte mit hinzugezogen werden mussten. Zu Recht waren unsere Klientinnen und Klienten entsetzt, das so etwas im sonst so korrekten Deutschland möglich ist.“

425 Klient*innen betreut
Im Berichtsjahr 2021 hat der JMD Lübeck 425 Klient*innen aus 41 Nationen betreut (140 weiblich, 284 männlich), darunter 413 Personen im Rahmen der Beratung und 12 Personen im Rahmen des Case-Managements. Davon waren 89,6 % junge Migrant*innen zwischen 19 und 27 Jahren, 9,6 % zwischen 15 und 18 Jahren und 0,8 % zwischen 12 und 14 Jahren. Die Haupt-Herkunftsländer waren Afghanistan, Syrien und der Irak.

Serap Berrakkarasu und Wolfgang Cramer richten einen klaren Appell an die Politik: „Es muss darum gehen, die Verfügbarkeit des Internets für alle Bevölkerungsgruppen zu verbessern, von der Digitalisierung abgeschnittene Gruppen mit technischen Geräten zu versorgen, vor allem aber die Medienkompetenz im Umgang mit sozialen Medien und den Möglichkeiten und Gefahren der Digitalisierung zu erhöhen. Notwendig sind niedrigschwellige Angebote, die den Menschen den sicheren Zugang zu Informationen und Teilhabe ermöglichen.“

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