60 Jahre Familien- und Erziehungsberatung

„Nicht jedes Jubiläum muss man feiern“, sagt Diplom-Psychologin Cornelia Goebel, Leiterin des Beratungszentrums Hüxterdamm. Dessen Ursprung war vor 60 Jahren die Familien- und Erziehungsberatung. Ein Rückblick.

Seit der Gründung der Erziehungsberatung im Jahr 1964 hat sich viel verändert. So wie sich die Gesellschaft in den 60 Jahren verändert hat, veränderte sich auch das Angebot und die Arbeitsweise in der Familien- und Erziehungsberatung.

1964 eröffnet der Kinderarzt und Psychologe Dr. Aba gemeinsam mit zwei weiteren Therapeutinnen die Erziehungsberatungsstelle in Lübeck. Das Diakonische Werk hatte die Trägerschaft und trug damals die Kosten anteilig zu 40 %, während die Hansestadt Lübeck sich mit 60 % beteiligte. Damals war die Beratung im Vergleich zu heute auf das Kind zentriert. Nach einer ausgiebigen Testdiagnostik, Verhaltensbeobachtung und einer kinderärztlichen Untersuchung stand die kindertherapeutische Behandlung im Vordergrund. Elterngespräche gab es nur in größeren Abständen.

Ende der 70er Jahre begann eine andere Ausrichtung der beraterischen Arbeit. Nicht mehr die Berater*innen waren die Expert*innen, die wussten, was richtig ist, nun ging es im Einklang mit dem Therapieverständnis der humanistischen Psychologie darum, mit der Familie einen Weg zu finden, deren Schwierigkeiten zu lösen. Diese Haltung wurde auch im wörtlichen Sinn sichtbar. Fand Beratung zuvor hinter dem Schreibtisch statt, änderte sich die Sitzordnung und der Berater oder die Beraterin saß mit den Ratsuchenden oder der Familie in einer Runde.

Am 1. Januar 1991 trat das neue Sozialgesetzbuch SGB VIII in Kraft und es kam zu einer rechtlichen Neuordnung der Kinder- und Jugendhilfe. Seither ist Erziehungsberatung ein Leistungsangebot innerhalb der Jugendhilfe als sogenannte Hilfe zur Erziehung und eine Pflichtaufgabe in jeder Kommune. Inzwischen trägt die Kommune 90% der Kosten. Eltern können ohne förmlichen Antrag eine Erziehungsberatungsstelle aufsuchen und diese Beratung auch kostenfrei in Anspruch nehmen. Neben der Kostenfreiheit ist auch die Schweigepflicht der Berater*innen eines der Eckpfeiler der Beratungsarbeit.

Auch die Qualitätsstandards in der Familien- und Erziehungsberatung wurden für dieses Angebot bundesweit festgelegt. So hat eine Familien- und Erziehungsberatung zwingend aus einem multiprofessionellen Team aus Psychologinnen und Psychologen sowie (Sozial-)Pädagoginnen und Pädagogen mit mindestens einer therapeutischen Zusatzqualifikation zu bestehen. Innerfamiliäre Dynamiken wurden zunehmend als bedeutsam betrachtet für die Aufrechterhaltung von Verhaltensauffälligkeiten. Somit kam der Elternberatung eine immer größere Bedeutung zu.

Auch bei den Eltern trat diese Sichtweise zunehmend ins Bewusstsein. Wurde zuvor als Anmeldegrund problematisches Verhalten der Kinder genannt, so meldeten sich jetzt mehr Eltern mit dem Wunsch an, besser mit den Konflikten umgehen zu können. In der Folge gingen die Einzeldiagnostik der Kinder und die Kindertherapie weiter zurück. Zusätzlich befördert wurde diese Entwicklung mit dem 1998 veränderten Psychotherapeutengesetz. Die Jugendhilfe schränkte psychotherapeutische Leistungen ein und verwies auf das Gesundheitswesen. Dies führte dazu, das Test- und Einzeldiagnostik nun überwiegend von niedergelassenen Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen übernommen wurde.

War die Beratung bisher ausschließlich klientenzentriert, gab es zunehmend Gruppenangebote für Eltern oder Kinder. Auch Präventive Angebote wie Themenabende für Eltern wurden angeboten.

Seit Ende der 90er Jahre kommt das Thema Trennung der Eltern in der Beratung zunehmend als Aufgabenfeld in den Fokus. Inzwischen geht es bei mindestens einem Drittel aller Anfragen um eine gewünschte Trennungs- und Umgangsberatung. Teilweise werden hochstrittige Eltern vom Gericht an die Beratungsstelle geleitet, um die Eltern zu befähigen, ihre Kinder aus den Trennungskonflikten herauszuhalten. Seit 2011 hat das Jugendamt die Trennungs- und Umgangsberatung auch vertraglich auf die Erziehungsberatung übertragen. Auch hier hielten neue Methoden Einzug in die Beratung.

Bei den strittigen Elternpaaren kommt es vielfach zu Beschimpfungen und Vorwürfen, so dass diese Beratungen mit engen Grenzen, Gesprächsregeln und deutlich strukturiert geleitet werden. Aktuell erleben wir eine deutliche Zunahme von physischer und psychischer Gewalt in der Familie, was erneut eine Veränderung der Beratungssituationen zur Folge hat, um den Schutz für die Ratsuchenden und die Berater*innen zu gewährleisten.

2013 wurden die Familien- und Erziehungsberatung, die Schwangerschafts- und Schwangerschaftskonfliktberatung sowie die Paar- und Lebensberatung als integrierte Beratungsstelle mit einem Team im Beratungszentrum Hüxterdamm vereint. Dies ermöglicht ein Angebot für Familien von der Familienplanung bis ins hohe Alter.

Cornelia Goebel leitet das Beratungszentrum Hüxterdamm.

Einen letzten deutlichen Einschnitt hat die Pandemie 2020 mit ihren Auswirkungen gesetzt. Die psychischen Belastungen bei Kindern und Jugendlichen sowie bei den Eltern haben stark zugenommen und stehen zunehmend im Fokus der Beratung – auch, weil das Gesundheitssystem mit langen Wartezeiten für die Betroffenen einhergeht. Insbesondere für Kinder und Jugendliche sind diese zu lang. Parallel dazu hat sich das Beratungssetting erweitert. Durch die Kontaktbeschränkungen mussten technische Wege der Beratung geschaffen werden. Hier wurde in die technische Ausstattung investiert, aber auch in eine Schulung der Berater*innen, um die Technik adäquat für die Beratung nutzen zu können.

In den zurückliegenden 60 Jahren waren die Entwicklungen nicht nur strukturell und organisatorisch, sondern auch die Arbeitsschwerpunkte und die Methoden haben sich gewandelt. Vor allem das Rollen- und Familienverständnis hat sich verändert. Die Angebote für die Familien wurden über die Jahrzehnte hinweg erweitert und an den Beratungsbedarf der Menschen angepasst.

Konstant geblieben ist der Leitsatz unserer Beratungsarbeit: Gemeinsam mit der Familie ein Weg finden.

Cornelia Goebel

zu Kinder & Familie
Bereich Kinder & Familie Illustration
Hier können Sie unsere Kita-Kinder mit Ihrer Spende unterstützen.